Aquaristik ohne Geheimnisse

Dr. Gerd Kassebeer  AH 2/95, S. 100/018

Ist unser Aquarium eine Kläranlage?

Wir lernen von der kommunalen Klärtechnik!

Wenn man von Berufs wegen in Kläranlagen arbeitet, und zwar speziell an der Kontrolle und Regelung von Teilen des Klärprozesses, kommt man durchaus nicht so schnell auf die Idee, daß analoge Vorgänge auch im Aquarium stattfinden, und daß Erfahrungen aus der kommunalen Klärtechnik auf die Aquaristik übertragbar sind. Zugegeben: Die Größenverhältnisse sind völlig andere, große Kläranlagen erstrecken sich über einen Quadratkilometer, meine Aquarien erreichen kaum 0,5 Quadratmeter, die Belastung großer Anlagen rührt von mehreren hunderttausend Menschen, die meiner Aquarien von etwa 0,5 Gramm Trockenfutter pro Tag. Im Ablauf der meisten Kläranlagen haben es auch die härtesten Fischarten schwer zu überleben, in meinen Aquarien durchaus nicht. Trotzdem, die wesentlichen Vorgänge sind prinzipiell gleich!

1.) Prinzipieller Aufbau von Kläranlagen.

Die Vorklärung ist häufig gegliedert in Rechenanlage, Sandfang und Vorklärbecken. Der Rechen trennt das Grobe ab, der Sandfang Sand und Kies, das Vorklärbecken das Absetzbare und das Aufschwimmende. Der abgetrennte Primärschlamm wird meistens dem Faulturm zugeführt und zusammen mit dem Überschußschlamm zu Biogas vergoren. Die Vorklärung wird auch als mechanische Klärung bezeichnet.

Nun tritt das mechanisch gereinigte Abwasser in den biologischen Teil der Kläranlage ein. Es wird mit dem Rücklaufschlamm vereinigt, der am Schluß des biologischen Teils, im Nachklärbecken, durch Sedimentation (Absetzen) wieder vom Abwasser abgeschieden wird. Der erste Abschnitt des biologischen Teils ist das Bio-P-Becken. Hier wird in Abwesenheit von Sauerstoff und Nitrat das gespeicherte Polyphosphat einiger Bakterienarten verbraucht, um vorhandene Gärprodukte, hauptsächlich Essigsäure, zu speichern. Dabei wird Phosphat freigesetzt! Im anschließenden Denitrifikationsbecken wird die Mischung aus Abwasser und Rücklaufschlamm mit dem nitrathaltigen Rücklauf aus dem Nitrifikationsbecken vereinigt. Hier wird Nitrat in Abwesenheit von Sauerstoff mithilfe gelöster organischer Nährstoffe zu Stickstoff veratmet. Nun tritt die Mischung in das Nitrifikationsbecken ein, und es wird Luftsauerstoff zugesetzt. Hier werden die restlichen gelösten organischen Stoffe zu Wasser, Kohlendioxid und Mineralstoffen oxydiert. Dabei wird das Ammonium zu Nitrat oxydiert. Das gelöste Phosphat wird von den Bakterien aufgenommen und gespeichert.

Ein großer Teil der Mischung läuft nun zurück zum Einlauf des Denitrifikationsbeckens, um vom entstandenen Nitrat befreit zu werden. Der Rest wird im Absitzbecken vom Schlamm befreit. Das geklärte Abwasser fließt in den Vorfluter, der Rücklaufschlamm in das Bio-P-Becken, der Überschußschlamm in den Faulturm. Die gesamte Verweilzeit des Abwassers in der Kläranlage beträgt etwa 2 Tage!

2.) Variationen.

Jede Kläranlage sieht anders aus. Hier wurde nur der Typus einer großen, modernen Anlage skizziert. Spötter sagen, in Deutschland gäbe es mehr Varianten von Kläranlagen als Ingenieurbüros, die sie konzipieren. Natürlich ist eine dörfliche Kläranlage einfacher aufgebaut als z. B. die Werksklärlage der BASF in Ludwigshafen, die wohl größte, die ich gesehen habe. Viele Kläranlagen haben noch keine Stickstoff- und Phophorelimination, einige eine chemische Phosphatfällung oder eine Tuchfiltration. Bei vielen Anlagen ist die Phosphatfällung mit Eisensalzlösungen in die Belebung (biologischer Teil) integriert. Bei der Gestaltung gibt es ebenfalls viele Varianten. Dörfliche Anlagen sind manchmal als Teiche gestaltet, industielle in hochstehenden Kesseln (Bayer-Turmbiologie). Die meisten Anlagen bestehen aus einer Reihe von Betonbecken, die durch Rohre und Pumpen miteinander verknüpft sind. Die Analogie zu Aquarien wird nirgends so recht sichtbar.

3.) Unterschiede zwischen Kläranlage und Aquarium

Eingangs wurde schon der Größenunterschied und die unterschiedliche Belastung erwähnt. Dazu kommt der Tatbestand, daß im Aquarium Fische leben, aber in keinem Teil der Kläranlage. Auch die Struktur einer Kläranlage hat mit der eines Aquariumfilters nichts zu tun. Während im Vorklärbecken und im Nachklärbecken sedimentiert (abgesetzt) wird, wird im Aquarium Sedimentation vermieden. Bakterien werden in der Belebung im Kreislauf geführt, im Aquarium mit einem ausreichend großen biologischen Filter nicht.

In der Kläranlage wird mit Belüftung gearbeitet, im Aquarium ist das verpönt. Während die BSB5-Raumbelastung in einer normalen Anlage bei 500 Milligramm pro Liter und Tag liegt, kommt ein Meterbecken etwa auf 3 Milligramm pro Liter und Tag. Bezieht man die Belastung rechnerisch nur auf das Filtervolumen, dann sieht das vor allem bei kleinen Filtern ganz anders aus. Die Raumbelastung steigt auf 100 Milligramm pro Liter und Tag und mehr. BSB5 heißt übrigens: Biologischer Sauerstoffverbrauch in 5 Tagen.

Schema einer Kläranlage

Schema einer Kläranlage

Das Wasser fließt einer Kläranlage zu und verläßt sie wieder. Das Aquarienwasser fließt ebenfalls dem Filter zu und verläßt ihn wieder. Nach einer Pause von 0,5 bis 1 Stunde kehrt das Aquarienwasser aber zum Filter zurück und durchfließt ihn erneut. Die Reinigung wird also 25 bis 50 Mal pro Tag wiederholt! Dadurch werden bei richtiger Auslegung des Aquarienfilters Reinheitsgrade erzielt, die in einer Kläranlage nicht möglich sind.

4.) Bakterienkultur.

Zur Pflege des Belebtschlammes wird in der Kläranlage ein hoher Aufwand getrieben. Das Alter des Schlammes muß möglichst hoch sein, um eine gute Nitrifikation zu bekommen. Ist das Alter zu hoch, so entsteht Blähschlamm im Nachklär-becken und stört den Absetzvorgang. Das optimale Schlammalter ist auch von der Temperatur abhängig.

Für die Oxydation des Ammoniums, von Kohlehydraten, Fetten und anderen leicht abbaubaren organischen Verbindungen im Nitrifikationsbecken reicht eine sehr niedrige Sauerstoffkonzentration aus, 1 Milligramm pro Liter und weniger!

In manchen industriellen Kläranlagen wird der Belebtschlamm mit organischen Substanzen gefüttert oder mit Mineralstoffen gedüngt. Manche Anlagen werden mit speziellen Bakterienkulturen beimpft, um schwer abbaubare Stoffe abbauen zu können. Im Labor wird der Schlamm untersucht, um stets optimale Eigenschaften zu erreichen.

5.) Belebtschlamm im Aquarium

Im Aquarium bildet sich eine Bakterienflora, die eine ähnliche Artenzusammensetzung hat wie die einer Kläranlage, bis auf die typischen Fäkalbakterien. Die sind in einem Aquarium natürlich nicht enthalten. Ist die Siedlungsfläche der Bakterien auf dem Filter oder den Pflanzen groß genug, so bleibt das Wasser weitgehend bakterienarm und klar. Nach einigen Wochen bis Monaten hat sich das Artenspektrum optimiert. Die Nitrifikation läuft hervorragend, die Denitrifikation nicht so gut, weil normalerweise zwei der drei Voraussetzungen nicht oder nur teilweise gegeben sind. Die geeigneten Bakterienarten sind zwar da (Voraussetzung Nr. 1), aber der Sauerstoff fehlt bestenfalls in dicken Schlammablagerungen (Voraussetzung Nr. 2), und dort fehlt wiederum die veratembare Substanz (Voraussetzung Nr. 3). Je nach Randdbedingungen stellt sich eine Nitratkonzentration von 30 bis 100 Milligramm pro Liter ein. Normale Pflegearbeiten beseitigen große Teile des Belebtschlamms, sodaß seine Reinigungsleistung für Tage bis Wochen rapide absinkt.

6.) Bedeutung der Filterkonstruktion.

Während der Belebtschlamm in der Kläranlage bei seiner eigentlichen Arbeit ständig aufgewirbelt wird, ist das im Aquarium nicht erwünscht. Würde man ein Aquarium ohne Filter und ohne Pflanzen betreiben, so würde die sich bildende Bakterienflora ebenfalls im freien Wasser suspendiert sein und es trüben. Die Bakterien siedeln, wenn es möglich ist, auf Flächen, die vom Aquarienwasser angeströmt werden, z. B. auf den Scheiben, der Bodenoberfläche, den Pflanzenblättern und auf den angeströmten inneren Filterflächen, z. B. den Poren eines offenporigen Schaumstoffs. Ist die Siedlungsfläche sehr groß und die Strömungsgeschwindigkeit gering (5 - 20 cm/min.), dann kommt das Schlammwachstum nach einigen Wochen bis Monaten zum Stillstand. Bakterienwachstum und Verluste durch Bakterienfresser wie Geißeltierchen, Wimpertierchen, Glockentierchen, Wurzelfüßer und Fadenwürmer halten sich die Waage.

Ist der Querschnitt des Filters zu eng, dann wird dieser Zustand nicht erreicht. Das Filter verstopft vorher und muß gereinigt werden mit den unerwünschten Folgen. Am besten ist ein großer Querschnitt bei geringer Filtertiefe, wie er z. B. beim "Hamburger Filter" erreicht wird. Dieses Filter besteht aus einer senkrecht zur Fläche durchflossenen Schaumstoffmatte, die 1971 durch Dr. Baensch zum Patent angemeldet, aber nicht weiter verfolgt wurde, unabhängig davon einige Jahre später von mir untersucht und in die Hobbyfischzucht eingeführt wurde. Hiermit läßt sich ein sehr hohes Schlammalter erreichen, das für die Optimierung des Artenspektrums sehr wichtig ist.

Die meisten handelsüblichen Filter sind Saugfilter, die gereinigt werden müssen und den Schmutz an der unzugänglichsten Stelle sammeln! Ein optimaler Belebtschlamm kann sich hier nicht ausbilden, weil dieser Vorgang immer wieder gestört wird.

7.) Unser Aquarium ist doch eine Kläranlage!

Die Fütterung der Fische sowie das Absterben von Pflanzenteilen führt zu einer Belastung des Wassers mit suspendierten und gelösten organischen Stoffen. Ganz gleich, ob ein Filter vorhanden ist oder nicht, wird unser Aquarium durch Bakterien besiedelt, die sich vom Abbau dieser organischen Substanz ernähren und sie mithilfe von Sauerstoff zu Mineralstoffen oxydieren. Genau das geschieht auch in jeder biologischen Kläranlage. Die meisten Aquarien sind mit Filtern ausgerüstet. Diese scheiden nicht nur die suspendierten Stoffe ab, sondern werden außerdem von Bakterien besiedelt. Damit ist eigentlich das Filter die Kläranlage. Da aber auch das freie Wasser und die Pflanzenoberflächen von Bakterien besiedelt sind, kann man das ganze Aquarium als Kläranlage auffassen.

Leider wird zuwenig getan, um diesen Reinigungsvorgang zu optimieren. Nicht der hohe Sauerstoffgehalt ist gefragt; Bakterien kommen mit sehr niedrigen Konzentrationen aus; entscheidend ist die Pflege des Schlamms. Eins der Geheimnisse der Altwasserbecken mag wohl darin bestanden haben, daß auch Mulm und Filterschlamm nicht angerührt wurden und sich daher optimal entwickeln konnten.

Ein anderer Punkt mag die Entwicklung von Gelbstoffen sein, die fälschlicherweise für Fischurin gehalten werden (Harnstoff ist farblos!). Es handelt sich um Fulvosäuren, die Abbauprodukte von Huminstoffen und gute Schwermetallchelatoren sind. Zu Unrecht stehen sie im Verdacht, viel Licht zu absorbieren. Bei im Aquarium vorhandenen Konzentrationen ist das nicht der Fall! Die Mineralisation der suspendierten Stoffe, die sehr langsam erfolgt, setzt ständig Pflanzennährstoffe und Spurenelemente frei. Die zusätzliche Sauerstoffzehrung ist gegenüber diesem Vorteil unerheblich. Wollte man diese zusätzliche Zehrung vermeiden, so müßte mindestens jede Woche gereinigt werden. Wer macht das schon! Die Pflege des Schlamms besteht (bei der richtigen Filterkonstruktion) lediglich darin, nichts zu tun und ihn in Ruhe zu lassen. Bequem ist die Schlammpflege also auch noch!

Ein wichtiger klärtechnischer Gesichtspunkt ist die Konstanz der Lebensbedingungen, wie Temperatur, pH-Wert bzw. Karbonathärte, Sauerstoffangebot, Haupt- und Spurennährstoffe, Ernährung. Das alles ist normalerweise im Aquarium gegeben.

Alter Schlamm ist ein hungernder Schlamm. Je mehr der Schlamm hungert, um so höher ist seine Reinigungsleistung. Mir ist nur eine BSB5-Messung von Aquarienwasser bekannt. Immerhin ist das Ergebnis zehnfach besser als das eines normalen Kläranlagenablaufs. Alter Schlamm entwickelt spezielle Enzyme, um auch schwer abbaubare Stoffe, wie z. B. Huminstoffe und den künstlichen Chelator EDTA (Ethylendiamintetraessigsäure) abzubauen. Je besser der Schlamm untergebracht ist, um so klarer ist auch das Aquarienwasser. Blicken Sie einmal durch die Längsachse Ihres Aquariums und versuchen Sie, durch diese Wasserschicht Zeitungstext zu lesen. Gelingt das ohne Mühe, dann geht es Ihrem Schlamm gut. Geht es nicht oder mühselig, dann ist Handlungsbedarf!

Wenn Sie 4 Wochen Urlaub machen und Ihre Fische nicht füttern lassen (was m. E. am vernünftigsten ist), dann schrumpft Ihr Schlamm auf dem Filter bezüglich der Menge, aber nicht der Qualität. Nach Ihrer Rückkehr hat er sich in wenigen Tagen erholt und ist so leistungsfähig wie zuvor.

Die Eigenschaft der Flockenbildung wird von den Klärtechnikern für sehr wichtig gehalten, ist sie doch die Grundlage der Trennung zwischen Abwasser und Klärschlamm im Nachklärbecken. Diese Eigenschaft ist aquaristisch ebenfalls sehr wichtig. Würde der Filterschlamm keine Flocken bilden, so würde er wieder aus dem Filter ausgetragen. Man erlebt das gelegentlich beim Anfahren eines neuen Aquariums. Tagelang ist das Wasser trübe, und plötzlich innerhalb weniger Stunden wird es klar. Die Flockenbildung hat, wenn auch spät, eingesetzt. Mit wenigen Tropfen Eisen-III-chloridlösung läßt sich das Verfahren abkürzen.

8.) Fazit

Ich hoffe, Sie überzeugt zu haben, daß Sie eine Kläranlage im Wohnzimmer betreiben! Machen Sie das Beste draus, zum Wohle Ihrer Fische und Pflanzen!
Autor: Dr. Gerd Kassebeer   Stand: 1995-02-01   File: http://www.deters-ing.de/Gastbeitraege/Klaeranlage.htm   User online: 1