Blog: Überlebensstrategien: Wie kommen Fische in sauerstoffarmen Gewässern zurecht? (7499)
Sauerstoffarmes Wasser klingt für uns Menschen wie ein absolut lebensfeindlicher Ort. Wenn man nur ein paar Minuten ohne Luft auskommen kann, wirkt die Vorstellung, dass Tiere ihr ganzes Leben in solchen Bedingungen verbringen, fast schon wie Science-Fiction. Doch gerade Fische haben im Laufe der Evolution eine beeindruckende Reihe von Strategien entwickelt, um selbst in extrem sauerstoffarmen Gewässern zu überleben – in warmen Tümpeln, schlammigen Sümpfen, überfüllten Teichen oder während nächtlicher Phasen mit starkem Sauerstoffabfall. Besonders in der Aquaristik ist dieses Thema nicht nur spannend, sondern auch praktisch relevant. Wer versteht, wie Fische physiologisch und verhaltensbiologisch auf Sauerstoffmangel reagieren, kann Aquarien deutlich stabiler und artgerechter gestalten.
Warum entsteht Sauerstoffmangel im Wasser überhaupt?
Bevor man verstehen kann, wie Fische damit umgehen, muss man sich anschauen, wie Sauerstoffmangel entsteht. Wasser enthält grundsätzlich weniger Sauerstoff als Luft, und seine Fähigkeit, Sauerstoff zu binden, hängt stark von Temperatur, Strömung und Bewuchs ab. Stehende Gewässer mit vielen Zersetzungsprozessen können innerhalb weniger Stunden drastisch an Sauerstoff verlieren. Auch im Aquarium kommt das öfter vor als man denkt – etwa im Sommer, nachts oder bei Überbesatz.
Typische Ursachen:
- Hohe Temperaturen: Warmes Wasser hält weniger Sauerstoff.
- Viele organische Abfälle: Mulm, Futterreste und Pflanzenreste „verbrauchen“ Sauerstoff, wenn sie zersetzt werden.
- Schwache Wasserbewegung: Wenig Oberflächenströmung bedeutet wenig Gasaustausch.
- Starke Atmungsaktivität nachts: Pflanzen betreiben nachts keine Photosynthese, sondern verbrauchen selbst Sauerstoff.
- Algenblüten: Tagsüber sauerstoffreich, nachts potenziell gefährlich.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Fische unter natürlichen Bedingungen viele Tricks brauchen, um in solchen Gewässern zu bestehen – und warum wir im Aquarium aufmerksam bleiben sollten.
Anpassungen auf physiologischer Ebene
Fische besitzen eine ganze Reihe biologischer Anpassungen, die ihnen helfen, auch bei sehr niedrigen Sauerstoffkonzentrationen weiter zu funktionieren. Manche Arten sind darauf spezialisiert, andere nutzen diese Mechanismen nur bei Bedarf.
Erhöhung der Kiemeneffizienz
Bei vielen Fischarten weiten sich unter Sauerstoffmangel die Blutgefäße in den Kiemen. Dadurch kann mehr Blut durch das Atmungsorgan fließen, was die Aufnahme einzelner Sauerstoffmoleküle verbessert. Gleichzeitig vergrößert sich die Oberfläche der Kiemenlamellen, weil die Stützzellen minimal „aufklappen“. Dieser Mechanismus ist reversibel – sobald das Wasser wieder sauerstoffreich ist, zieht sich das System zusammen.
Veränderter Blutaufbau
Viele Arten können ihr Blut tatsächlich anpassen:
- Höhere Hämoglobinaffinität: Das Hämoglobin bindet Sauerstoff stärker.
- Mehr rote Blutkörperchen: Dadurch steht mehr Transportkapazität bereit.
- Sauerstoffspeicherung in Geweben: Ähnlich wie Meeressäuger, nur in schwächerer Form.
Besonders Karpfenartige sind Meister darin. Sie können ihre Blutchemie innerhalb von Stunden umstellen.
Anaerober Stoffwechsel
Wenn kaum Sauerstoff verfügbar ist, schalten manche Fische auf einen alternativen Stoffwechsel um, der ohne O₂ funktioniert. Dabei entsteht Milchsäure oder Ethanol als Abfallprodukt. Der Goldfisch und der Karausche gehören zu den wenigen Wirbeltieren, die Ethanol ausscheiden können, um nicht zu „übersäuern“. Das ist ein evolutionär einzigartiger Trick, der es ihnen ermöglicht, in winterlichen Teichen wochenlang unter Eis zu überleben.
Senkung des Energieverbrauchs
Viele Arten können ihren gesamten Stoffwechsel drastisch herunterfahren. Das betrifft:
- Bewegung
- Verdauung
- Wachstum
- Organaktivität
Der Körper läuft dann auf „Sparflamme“, wodurch weniger Sauerstoff verbraucht wird.
Atmen über die Luft: Labyrinther, Darmatmer & Co.
Einige Fische haben so beeindruckende Anpassungen entwickelt, dass sie Luft atmen können. Diese Fähigkeit ist eines der spannendsten Themen im Zusammenhang mit sauerstoffarmen Gewässern.
Labyrinther
Arten wie Bettas, Makropoden und Guramis besitzen ein spezielles Organ – das Labyrinthorgan. Es erlaubt ihnen, atmosphärische Luft an der Oberfläche zu atmen. In Reisfeldern, Sümpfen oder temporären Gewässern ist das ein enormer Vorteil. Sie sind nicht davon abhängig, was im Wasser passiert, solange sie Zugang zur Oberfläche haben.
Darmatmer
Bestimmte Panzerwelse – wie Corydoras – schlucken regelmäßig Luft und nehmen Sauerstoff als Darmatmer über die gut durchblutete Darmschleimhaut auf. Dann wird die verbrauchte Luft wieder ausgestoßen. Dieses Verhalten ist vielen Aquarianern bekannt und völlig normal, solange es nicht übermäßig häufig auftritt.
Hautatmung
Larven vieler Fischarten können Sauerstoff über die Haut aufnehmen. Auch einige adulte Arten können in extremen Situationen einen Teil des Gasaustauschs über die Haut abwickeln. Das ist selten effizient, aber in absoluter Not überlebenswichtig.
Verhaltensanpassungen als Überlebensstrategie
Auch das Verhalten der Fische verändert sich deutlich, wenn Sauerstoff knapp wird.
Aufsuchen der Oberflächenzone
Fische schwimmen dann vermehrt an die Oberfläche, weil dort der höchste Sauerstoffgehalt liegt. Bei Labyrinthern ist das normales Verhalten, bei anderen Arten ein klares Zeichen von Not.
Geringere Aktivität
Viele Arten reduzieren aktiv ihre Energieausgaben. Sie schwimmen weniger, suchen ruhigere Zonen auf und minimieren hektische Bewegungen. Das senkt den Sauerstoffverbrauch erheblich.
Verlassen ungünstiger Bereiche
Arten, die in der Natur Zugang zu verschiedenen Zonen eines Gewässers haben, wechseln aktiv zwischen Bereichen mit unterschiedlichen Sauerstoffwerten. Manche ziehen nachts in flachere Bereiche, wo Pflanzen tagsüber Sauerstoff produziert haben.
Atmen im Schwarm
Es gibt Beobachtungen, dass manche Arten in sauerstoffarmen Zonen enger zusammenstehen und dadurch kleine Mikroströmungen erzeugen, die den Gasaustausch an der Oberfläche minimal verbessern. Das Verhalten ist noch nicht komplett erforscht, aber sehr spannend.
Arten, die wahre Meister im Überleben sind
Einige Fischarten sind legendär, wenn es um das Überleben in schwierigen Bedingungen geht. Dazu gehören:
- Karausche (Carassius carassius): Kann monatelang fast ohne verfügbaren Sauerstoff auskommen.
- Goldfisch: Besitzt ähnliche Fähigkeiten wie die Karausche.
- Betta splendens: Dank Labyrinthorgan extrem tolerant gegenüber warmen, stehenden Gewässern.
- Clarias-Welse: Können sogar über Land kriechen und Luft atmen.
- Guramis: Perfekt angepasst an flache, warme Gewässer.
- Panzerwelse: Nutzt ergänzende Darmatmung.
- Killifische: Können zeitweise in Pfützen überleben, die fast komplett austrocknen.
Was bedeutet das für das Aquarium?
Auch wenn Fische erstaunlich widerstandsfähig sind, sollte man sich nicht darauf verlassen, dass sie „schon klarkommen“. Viele der beschriebenen Strategien sind Notfallmechanismen und gehen mit Stress einher.
Worauf man achten sollte:
- gute Oberflächenbewegung
- regelmäßige Wasserwechsel
- nicht zu stark überbesetzen
- organische Belastung niedrig halten
- Pflanzen nachts im Blick behalten
- auf Anzeichen wie „Luftschnappen“ achten
Vieles, was draußen über Jahrtausende evolviert ist, lässt sich im Aquarium leicht vermeiden, wenn man die Zusammenhänge versteht.
FAQs
Warum schnappen Fische an der Wasseroberfläche?
Weil dort der Sauerstoff am höchsten ist. Wenn Arten ohne Labyrinthorgan das dauerhaft tun, ist das ein Warnsignal.
Welche Fischarten brauchen besonders viel Sauerstoff?
Forellenartige, viele Barben, einige Salmler und alle Arten, die natürlicherweise in Fließgewässern leben.
Kann Sauerstoffmangel Fische töten?
Ja, und zwar schnell. Besonders nachts können Werte unvermittelt fallen.
Kann man Sauerstoffmangel sofort beheben?
Starke Oberflächenbewegung, Frischwasser und eine reduzierte Fütterung helfen akut.
Sind Luftausströmer im Aquarium sinnvoll?
Nicht immer nötig, aber bei Hitze, Medikamenteneinsatz oder nachts eine gute Unterstützung.
Fazit
Fische sind beeindruckende Überlebenskünstler. Ihre Fähigkeit, in sauerstoffarmen Gewässern zurechtzukommen, basiert auf einer Kombination aus physiologischen Anpassungen, cleveren Verhaltensstrategien und teilweise spektakulären evolutionären Entwicklungen. Doch trotz all dieser Fähigkeiten bleiben Sauerstoffmangel und schlechte Wasserqualität Risikofaktoren. Wer versteht, wie empfindlich das Gleichgewicht im Wasser ist, kann sein Aquarium nachhaltig stabil halten und seinen Tieren ein Umfeld bieten, in dem sie nicht nur überleben, sondern sich wirklich wohlfühlen.







