Faustformeln: Deshalb solltest du niemals deinen Besatz damit planen
In fast jedem Aquaristikforum, in sozialen Netzwerken oder in Ratgebern stößt man früher oder später auf Faustformeln, die angeblich dabei helfen sollen, die richtige Menge an Fischen für ein Aquarium zu bestimmen. Besonders verbreitet ist dabei die bekannte Regel „1 cm Fisch pro 1 Liter Wasser“ oder Abwandlungen wie „1 cm Fisch pro 2 Liter Wasser“. Auf den ersten Blick klingt das logisch und einfach: Man misst die Länge der ausgewählten Fische und kann anhand der Aquariumgröße scheinbar direkt berechnen, wie viele Tiere hineinpassen.
Doch in der Realität zeigt sich schnell, dass diese Faustformeln nicht nur ungenau, sondern oft sogar gefährlich sind. Wer sich blind auf solche Regeln verlässt, riskiert nicht nur eine Überlastung des Aquariums, sondern auch Stress, Krankheiten und verkürzte Lebensdauer der Fische.
In diesem Artikel schauen wir uns detailliert an, warum Faustformeln in der Aquaristik nicht funktionieren, welche Faktoren bei der Besatzplanung wirklich wichtig sind und wie man stattdessen sinnvoll und verantwortungsvoll vorgeht.
Die Verlockung der Einfachheit
Faustformeln wirken attraktiv, weil sie schnell und unkompliziert eine scheinbare Lösung bieten. Gerade Einsteiger suchen nach klaren Regeln, um Fehler zu vermeiden. Doch genau hier liegt das Problem: Aquaristik ist ein komplexes Hobby, bei dem unzählige biologische, chemische und verhaltensbezogene Faktoren zusammenspielen. Diese Vielfalt lässt sich nicht in eine simple Gleichung pressen.
Ein Beispiel: Ein 10 cm langer Skalar unterscheidet sich in seiner Lebensweise massiv von einem 10 cm langen Antennenwels. Beide mögen gleich groß erscheinen, aber ihr Platzbedarf, Sozialverhalten und Stoffwechsel sind grundverschieden. Eine Regel, die nur auf die Länge des Fisches schaut, ignoriert sämtliche Unterschiede zwischen Arten.
Unterschiede zwischen Fischarten
Körperbau und Volumen
Ein 10 cm langer Neonfisch ist ein völlig anderes „Volumenpaket“ als ein 10 cm langer Goldfisch. Während der Neonfisch schlank und zierlich ist, besitzt der Goldfisch einen massigen Körperbau mit viel mehr Masse. Diese Unterschiede beeinflussen:
- den Sauerstoffbedarf
- die Menge an ausgeschiedenen Stoffwechselprodukten
- den Platzbedarf beim Schwimmen
- Faustformeln berücksichtigen solche Unterschiede nicht.
Sozialverhalten
Manche Arten sind Schwarmfische und benötigen eine gewisse Gruppengröße, um sich wohlzufühlen. Andere sind territoriale Einzelgänger, die viel Platz für Reviere beanspruchen. Beispiele:
- Neonfische: Müssen mindestens in Gruppen von 10–15 Tieren gehalten werden.
- Kampffische: Oft territorial und nur einzeln haltbar.
- Buntbarsche: Revierbildner mit teils aggressivem Verhalten, die selbst in großen Aquarien schnell an Grenzen stoßen.
Eine Faustformel, die einfach „X cm pro Liter“ rechnet, kann diese Verhaltensweisen nicht abbilden.
Schwimmverhalten
Arten wie Barben oder Regenbogenfische sind Dauer-Schwimmer, die weite Bahnen ziehen. Andere wie Panzerwelse verbringen ihre Zeit am Boden. Wieder andere wie Schwertträger nutzen vor allem die oberen Bereiche. Die Höhe, Länge und Struktur des Aquariums spielen daher eine entscheidende Rolle.
Ein 100-Liter-Aquarium mit einer Länge von 80 cm bietet für schwimmfreudige Aquarienfische deutlich weniger nutzbare Fläche als ein 100-Liter-Aquarium mit 120 cm Länge. Faustformeln ignorieren diese Unterschiede völlig.
Biologische Belastung des Aquariums
Ein weiterer Grund, warum Faustregeln nicht funktionieren, ist die biologische Belastung. Die Anzahl der Fische sagt wenig darüber aus, wie stark ein Aquarium wirklich beansprucht wird.
Stoffwechsel und Kotmenge
Arten mit einem schnellen Stoffwechsel (z. B. viele kleine Lebendgebärende) produzieren deutlich mehr Abfallprodukte pro Zentimeter Körperlänge als langsam wachsende Arten. Ein 5 cm Guppy belastet das Wasser daher stärker als ein 5 cm Panzerwels.
Futteraufnahme
Unterschiedliche Futterarten (trocken, lebend, pflanzlich) führen zu unterschiedlichen Mengen an Resten und Ausscheidungen. Besonders Goldfische sind dafür bekannt, viel zu fressen und gleichzeitig enorme Mengen Kot zu produzieren – trotz scheinbar „passender“ Körpergröße.
Filterkapazität und Bakterienhaushalt
Die Filterung und das biologische Gleichgewicht spielen eine enorme Rolle. Zwei Aquarien mit gleicher Größe, aber unterschiedlicher Filtertechnik, können eine völlig unterschiedliche Besatzdichte verkraften. Faustformeln gehen davon aus, dass jedes Aquarium gleich „leistungsfähig“ ist, was schlicht nicht stimmt.
Einfluss der Aquariengröße und -form
Die Größe des Beckens ist nicht nur durch das Volumen definiert. Viel wichtiger sind die Maße und die Einrichtung:
- Länge: Wichtig für schwimmaktive Arten.
- Höhe: Relevanter für Hochrückige Fische wie Skalare.
- Grundfläche: Entscheidend für Bodenbewohner wie Panzerwelse oder Schmerlen.
- Strukturierung: Höhlen, Pflanzen und Wurzeln schaffen Reviere und Rückzugsorte, was bei territorialen Arten über Wohlbefinden oder Stress entscheidet.
Eine Faustregel wie „1 cm Fisch pro Liter“ sagt über diese Faktoren überhaupt nichts aus.
Fallbeispiele für das Scheitern von Faustformeln
Fall 1: 60-Liter-Aquarium mit 60 cm Fisch
Nach der Faustregel könnte man einen 60 cm langen Fisch oder mehrere kleine Fische, die zusammen 60 cm ergeben, in ein 60-Liter-Becken setzen. Praktisch wäre das katastrophal: Schon ein einzelner 30 cm Fisch benötigt mehr Platz, als ein 60-Liter-Becken bieten kann.
Fall 2: Schwarmfische
15 Neonsalmler mit je 3 cm Länge ergeben 45 cm Fisch. Nach der Faustregel wäre das in einem 50-Liter-Becken „okay“. In der Realität benötigen sie jedoch viel Schwimmraum und eine entsprechende Gruppengröße, was eher ein Becken ab 80–100 cm Kantenlänge sinnvoll macht.
Fall 3: Territorialer Buntbarsch
Ein 10 cm Buntbarsch mag nach der Faustregel in ein 60-Liter-Becken passen. Tatsächlich beansprucht er aber ein Revier von 80–100 cm Kantenlänge und verträgt sich dort oft nicht mit anderen Arten.
6. Wichtige Faktoren für die Besatzplanung
Anstatt sich auf falsche Regeln zu verlassen, sollte man bei der Besatzplanung auf folgende Punkte achten:
- Artgerechte Bedürfnisse – Schwarmgröße, Revierverhalten, Schwimmraum.
- Aquarienmaße – Länge, Breite, Höhe und Struktur.
- Wasserwerte – pH-Wert, Härte, Temperatur.
- Filterung und Pflege – Wie stark ist der Filter? Wie häufig wird gepflegt?
- Langfristige Größe – Viele Arten wachsen größer, als man denkt. Jungtiere dürfen nicht als Endgröße kalkuliert werden.
- Verhalten im Aquarium – Verträglichkeit mit anderen Arten, Aggressionspotenzial, Revierverhalten.
Alternativen zu Faustformeln
Wer auf Nummer sicher gehen möchte, sollte Faustformeln komplett meiden und stattdessen:
- Artenprofile studieren: Seriöse Literatur und Datenbanken geben Informationen über Endgröße, Sozialverhalten und benötigte Aquariengröße. Der Besatzplaner von EB ermöglicht es dir, genau die Fische zu finden, die zu deinem Aquarium und deinen Wasserwerten passen.
- Aquarienmaße berücksichtigen: Besonders Länge und Grundfläche beachten.
- Eigene Beobachtungen nutzen: Fische genau beobachten und ggf. den Besatz anpassen.
- Erfahrungen erfahrener Aquarianer einholen: Foren, Vereine und Fachliteratur sind wertvolle Quellen.
- Langfristig denken: Nicht nur die Anfangsgröße, sondern das Wachstum über Jahre berücksichtigen.
FAQs
1. Warum sind Faustformeln überhaupt so verbreitet?
Weil sie für Einsteiger leicht verständlich sind und eine schnelle Orientierung bieten. Allerdings ersetzen sie niemals fundiertes Wissen und sind eher ein Mythos aus Zeiten, in denen es weniger Informationsquellen gab.
2. Gibt es Situationen, in denen Faustregeln sinnvoll sind?
Allenfalls als grobe Orientierung im absoluten Anfängerbereich. Für eine verantwortungsvolle Planung taugen sie nicht, da sie die entscheidenden Faktoren ignorieren.
3. Wie finde ich heraus, wie viele Fische in mein Aquarium passen?
Indem man sich die spezifischen Bedürfnisse der Wunscharten anschaut. Die Beckengröße, das Verhalten, die Wasserwerte und die Filterung sind ausschlaggebend.
4. Was passiert, wenn man sich nur nach Faustformeln richtet?
Überbesatz, gestresste Tiere, Krankheiten, Algenprobleme und im schlimmsten Fall Verluste im Aquarium.
5. Ist weniger Besatz immer besser?
Nicht unbedingt. Schwarmfische benötigen eine bestimmte Gruppengröße, um ihr natürliches Verhalten zu zeigen. Weniger ist also nicht immer besser – die richtige Balance zählt.
Fazit
Faustformeln zur Besatzplanung sind ein Relikt aus alten Zeiten, das in modernen, verantwortungsvollen Aquarienwelten keinen Platz mehr haben sollte. Sie vermitteln eine trügerische Sicherheit, während sie die Komplexität der Aquaristik völlig ignorieren. Unterschiede in Körperbau, Verhalten, Stoffwechsel, Aquarienmaßen und Technik lassen sich nicht auf eine einfache Gleichung reduzieren.
Wer Fische artgerecht halten möchte, muss sich intensiv mit den Bedürfnissen der Tiere auseinandersetzen. Das bedeutet: Literatur studieren, Artenprofile vergleichen, Erfahrungen sammeln und beobachten. Nur so lässt sich ein harmonisches, gesundes Aquarium schaffen, in dem Fische lange und zufrieden leben können.
Faustformeln sind bequem, aber falsch. Wahre Aquaristik lebt von Wissen, Geduld und Verantwortung.





